Bald nachdem ich nach Athen zog, hörte ich Gerüchte über einen verlassenen Palast und das dazugehörige Anwesen in den umliegenden Hügeln, wo man durch das Gelände laufen und die langsam verfallenden Gebäude frei erkunden kann. Man sagte mir, dort befänden sich Luxuswagen, die in vermoderten Garagen vor sich hin rosteten, als ob die vorherigen Eigentümer gezwungen worden seien, in aller Eile zu fliehen. Schließlich fand ich heraus, dass die Gerüchte Wirklichkeit waren: 35 Kilometer von Athen liegt das Anwesen Tatoi, die Sommerresidenz der ehemaligen griechischen Königsfamilie.
Das Tatoi-Anwesen erstreckt sich über 10.000 Hektar eines friedlichen pinienbewachsenen Berghangs oberhalb von Varibobi und bietet Vieles für einen abenteuerlichen Tagesausflug, um dem Stadtleben zu entkommen. Teilweise ist das Anwesen mit Mitteln der Europäischen Union gesäubert worden, sodass es weniger verwahrlost und heruntergekommen aussieht, aber dennoch behält es eine eigentümliche Atmosphäre; ein historisches Relikt, das langsam am Rande der Zivilisation verrottet. Ein zeitloses Gegenmittel zur unbezähmbaren Hektik Athens.
König Georg I. kaufte das Grundstück im Mai 1872 von Skarlatos Soutsos, einem Griechen aus Istanbul, dem Gerichtsoberhaupt und Regierungsminister. Bis zur Abschaffung der Monarchie 1974 war es die offizielle Sommerresidenz der Königsfamilie und Zeuge vieler wichtiger Ereignisse, wie die Geburt Königs Georg II. im Jahre 1890 und die Vereidigung der Regierung Venizelos durch Konstantin I. im Jahre 1915.
Als die königliche Familie das Anwesen kaufte, befanden sich dort nur einige verstreute Gebäude, Bauernhütten, eine Mühle und ein Fünf-Zimmer-Haus. Im Jahre 1880 wurde der junge Architekt Savvas Boukis mit dem Auftrag nach St. Petersburg entsandt, eine Kopie eines Herrenhauses in der königlichen Anlage des Schlosses Peterhof anzufertigen. Der Bau der Hauptresidenz begann 1884. Nach der Ausstattung und der Landschaftsgestaltung zog die royale Familie des Königs Konstantin I. und der Königin Sophia im Jahre 1889 schließlich ein. Im Lauf der Jahre wurden verschiedene Gebäude hinzugefügt, die auch heute noch zu sehen sind, wie eine Garage, eine Weinkellerei, ein Friedhof, Ställe und ein (nun leeres) Schwimmbecken.
Nach einer Zeit politischer Unruhen ergriff eine Militärjunta im April 1967 die Macht in Griechenland. König Konstantin II. unternahm einen erfolglosen Versuch, die Diktatur zu stürzen, und die königliche Familie wurde im Dezember desselben Jahres außer Landes vertrieben. Seither scheint die Zeit im Tatoi stehengeblieben zu sein. Nach der Rückkehr der Demokratie im Jahre 1974 und einem Referendum, in dem für die Abschaffung der Demokratie gestimmt wurde, ging das Anwesen in die Hände des griechischen Staates über. Dort befand sich sein Schicksal in der Schwebe, bis im Jahre 2002 ein jahrelanger Rechtsstreit über die Eigentumsrechte zwischen dem Staat und der ehemaligen Königsfamilie endlich beigelegt wurde.
Im Jahre 2004 begaben sich Vertreter des Kultusministeriums auf das Anwesen Tatoi, um zu sehen, was nach Jahrzehnten der Vernachlässigung, des Vandalismus, der Plündereien und der Entfernung von neun Frachtcontainern voller Schätze durch die exilierten Mitglieder der Königsfamilie in den frühen 90er-Jahren. Die immensen Bemühungen zur Wiedererschaffung und Erhaltung wurden im Jahre 2012 abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Ministerium ca. 17.000 Gegenstände angehäuft , von Alltagsgegenständen wie Weinflaschen und Kinderspielzeug bis hin zu kunstvoll gearbeiteten Kleidungsstücken, kostbaren Antiquitäten und Kunstwerken, die alle fotografiert, katalogisiert und archiviert wurden. Leider ist nichts davon zu besichtigen, da die Pläne, das Tatoi in ein Museum umzuwandeln, nicht umgesetzt wurden.
Der Verein ‚Freunde von Tatoi‘ hat Anstrengungen unternommen, um diese stattliche Residenz und das Anwesen vor der Zerstörung zu bewahren. Der Verein ist eine der führenden Stimmen, die fordern, dass das Tatoi vollständig wiederhergestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Aber wie so viele Pläne in Bezug auf das ungenutzte Anwesen, die durch die Jahre erstellt wurden – von der Wiederbelebung des landwirtschaftlichen Betriebes und der Weinkellerei bis hin zur Schaffung einer Stätte für sportliche und kulturelle Veranstaltungen – sind auch diese Träume nicht Wirklichkeit geworden. Tatoi bleibt eine vergessene Schönheit, die in den Tiefen des Waldes verkümmert.
In dieser weitläufigen Anlage kann man stundenlang umherwandeln. Während die bedeutenderen Gebäude, einschließlich der Hauptresidenz, heute gesichert sind, hat man eine Handvoll kleinerer Objekte ihrem Schicksal überlassen. Wenn man über sie stolpert, hat man das Gefühl, der erste zu sein, der sie entdeckt. Dann und wann begegnet man eigenartigen Objekten wie Gittern, die, vom Gestrüpp überwältigt, ins Nirgendwo führen.
So kommen Sie hin
45 Autominuten von Athen befindet sich das Anwesen Tatoi versteckt in den Hängen über dem Vorort Varibobi, im Schatten der mächtigen Parnitha-Gebirgskette, die sich westlich davon erstreckt. Der einzige Weg dorthin ist mit dem Auto. Nehmen Sie die Tatoiou-Straße und folgen Sie ihr bis in den Wald hinein. Es gibt zwei Eingänge ins Anwesen: Der eine befindet sich direkt hinter der Taverne Leonidas (Tatoiou-Straße 143), und ein anderer führt Sie auf direktem Wege in die Anlage der Residenz, aber es gibt keine Wegweiser dorthin. Sie finden den Eingang dennoch, wenn Sie einem engen Pfad folgen, der 300 Meter vor dem Gebäude des Vereins ‚Freunde des Waldes‘ vom Parkplatz in der Tatoiou-Straße abgeht.
Mit einer Entfernung von etwa 35 Kilometern vom Stadtzentrum ist das Anwesen Tatoi ein beliebtes Ausflugsziel für Radfahrer. Diejenigen unter Ihnen, die ihre Beinkraft lieber für die Aufstiege aufsparen oder den Verkehr vermeiden wollen, nehmen den nützlichen, aber frustrierend sporadisch fahrenden S-Bahn-Vorstadtzug OSE Proastiakos vom Bahnhof Larissa in Richtung Chalkida und steigen in Dekelia, am Rande des Tatoi-Flugfelds aus. Um einen herrlichen Tag im Sattel zu verbringen, folgen Sie der Tatoiou-Straße bis zum Anwesen. Fahren Sie danach weiter bis zum Gipfel und auf der anderen Seite wieder hinunter, um anschließend mit dem Vorstadtzug von Afidnes wieder nach Hause zu fahren. Wenn Sie über Zeit und Beinkraft verfügen, radeln Sie weiter auf den ruhigen, baumgesäumten Landstraßen geradewegs bis nach Avlona, wo Sie eine gute Auswahl an Tavernen erwartet. Dort tanken Sie frische Kräfte und können zugleich einen weiteren verlassenen Schatz besichtigen, nämlich ein Autokino zu Ihrer Rechten, unweit von der Autobahn.
Beliebt ist Tatoi auch bei Wanderern, Mounainbikern und Offroad-Motorradfahrern. Obwohl man nicht leicht an Informationen und Landkarten zu den Pfaden kommt (insbesondere auf Englisch), gibt es viele anspruchsvolle, aber gut markierte und instand gehaltene Wege, die die Gebirgskette rund um das Anwesen kreuz und quer durchziehen.