Als der amerikanische Schriftsteller Henry Miller in den 1930er Jahren nach Epidauros kommt, ist er so begeistert von der Landschaft, dass er in seiner Erzählung Der Koloss von Maroussi schreibt: „Die Straße nach Epidauros ist wie die Straße zur Schöpfung. Man sucht nicht mehr. Man wird still, verstummt durch die Stille geheimnisvoller Anfänge.“
Der im nordöstlichen Teil des Peloponnes, weniger als zwei Autostunden von Athen entfernt gelegene antike Schauplatz Epidauros lohnt sich als Destination für einen Tagesausflug – ob man nun einer Vorstellung unter freiem Himmel im außergewöhnlichen Amphitheater beiwohnt oder nicht. Epidauros war ebenfalls das wichtigste Heiligtum des Asklepios, eines Halbgottes, der ob seiner heilenden Kräfte verehrt wurde. Fast tausend Jahre lang strömten die Kranken in seine Tempelanlage in Epidauros in der Hoffnung, im ganzheitlichen Heilzentrum zu genesen.
Das Heiligtum des Asklepios
Versuchen Sie, früh morgens oder zwei Stunden vor Sonnenuntergang im antiken Epidauros anzukommen, wenn weniger los ist. Obwohl Sie wahrscheinlich gerne das berühmte Theater besichtigen möchten, sollten Sie zuerst einen Bummel durch das Heiligtum des Asklepios machen. Dort gibt es keine imposanten Ruinen wie in Olympia oder in Delphi, nur die Grundmauern seiner vielen Gebäude, also beschwören Sie Ihre Vorstellungskraft. Stellen Sie sich das Gelände unter Ihren Füßen als ersten ganzheitlichen Kurort und Heilstätte vor, sowie als Kulisse für sportliche Wettkämpfe und Götterverehrung. Und falls Sie vielen Menschen begegnen sollten, stellen Sie sich vor, Sie seien allesamt Pilger auf der Suche nach spiritueller oder körperlicher Heilung. Denn diese berühmte Kultstätte zog tatsächlich Kranke und ihre Angehörigen aus der gesamten hellenistischen und später der römischen Welt an.
Mythen und Medizin
Was immer wir heutzutage von Mythen, Wundern oder sogar unkonventioneller Medizin halten mögen: Der Asklepios-Kult muss wohl Früchte getragen haben, andernfalls wäre er im Sande verlaufen. Im Gegenteil breitete er sich aus und an die 300 Asklepios-Heiligtümer wurden in ganz Griechenland gegründet. Im Museum sieht man Inschriften unglaublicher Heilungen, wie die einer Frau namens Cleo, die nach fünfjähriger Schwangerschaft einen Jungen gebar. Außerdem gibt es chirurgische Instrumente, obwohl einige der Heilungen zweifelsohne auf Kräuterheilmittel und ein tiefes Verständnis der menschlichen Natur zurückzuführen sind.
Ein wichtiger Bestandteil der Heilung lag darin, dass man die Nacht in einem Gebäude, dem sogenannten Enkoimitirion (Schlafsaal) verbrachte, wo die Patienten im Traum den Heilgott konsultierten, bisweilen begleitet von harmlosen Schlangen, die sie leckten. Auch heute noch ist das Symbol vieler ärztlicher Gesellschaften ein Stab mit einer sich um ihn windenden Schlange, der sogenannte Äskulapstab.
Aber hier handelte es sich um eine Heilstätte für den Geist, den Körper und die Seele, also gab es ebenfalls viele Tempel, eine Bibliothek, ein ‚Einkaufszentrum‘, eine Luxusherberge mit 160 Zimmern, sowie Sportanlagen – ein Stadion, eine Ringkampffläche, eine Gymnastik-/Banketthalle – und Bäder. Patienten, Pilger und Familienangehörige konnten Poesie oder Musik genießen, meditieren, Sport treiben und alle vier Jahre einem Drama-Festival und rituellen Spielen beiwohnen.
Das antike Theater von Epidauros
Und nun zur Hauptattraktion: dem Theater. Dieser absolut perfekte Kalksteinbau wurde von Polyklet im 4. Jahrhundert v. Chr. entworfen. Manche Experten vertreten die Ansicht, dass die Tribüne ca. 200 Jahre später von ursprünglich 6000 Sitzplätzen, welche heute den unteren Abschnitt des Theaters bilden, auf 14000 Plätze erweitert wurde.
Zweifelsohne haben Sie schon gelesen, dass Epidauros als das perfekteste Amphitheater in Griechenland gilt, sowohl in architektonischer als auch in akustischer Hinsicht. Es heißt, man könne eine Münze, die im Zentrum des Theaters auf den Boden fällt, bis in die hintersten Reihen hören. Natürlich werden Sie das Experiment selbst auf die Probe stellen wollen. Geben Sie Ihre Lieblingsmelodie zum Besten oder suchen Sie sich einen Platz zum Hinsetzen und Betrachten des Spektakels dieser einzigartigen Stätte. Lassen Sie den tiefen Frieden, den Henry Miller erlebte, auf sich einwirken: „In Epidauros, in der Stille, hörte ich das Herz der Welt schlagen.“
Das Athen Epidaurus Festival
Einer tatsächlichen Vorstellung in Epidauros beizuwohnen ist eine unvergessliche Erfahrung. Über die vergangenen sechs Jahrzehnte haben legendäre Stimmen wie die von Maria Callas, Kevin Spacey und Helen Mirren als Höhepunkt des Athens Epidaurus Festivals im Theater unter freiem Himmel wiedergehallt. Während dieses jährlichen Sommerevents könnte man Werke von Shakespeare, Racine oder Beckett sowie ab und zu ein Konzert verfolgen. Aber für die meisten ist der eigentliche Grund für einen Besuch in Epidaurus, eines der großen Werke der klassischen Dichter wie Sophokles und Aristophanes an einem Ort zu erleben, den die antiken Dichter selbst zu Lebzeiten nicht mehr erlebten, den sie jedoch sicherlich geschätzt hätten. Wenn Sie vorhaben, Athen im Juni, Juli oder August zu besuchen, sehen Sie sich unbedingt das Festival-Programm an und machen Sie einen Abstecher an diese unglaubliche Stätte.
Fahrt nach Epidauros
Öffentliche Busse von Athen nach Epidauros fahren von der Busstation Kifissos ab. Besucht man den Ort auf eigene Faust, entweder mit einem Leihwagen oder einem privaten Führer, hat man den Vorteil, dass man seine eigene Reiseroute und –zeit bestimmen kann. Es gibt zwei Wege nach Epidauros – über Mykene und Nafplio oder entlang der Küste, vom Kanal von Korinth aus. Letztere Route führt durch ein Dörfchen namens Oraia Eleni, wo die schöne Helena (von Troja) sich angeblich aufgehalten haben soll, nachdem sie von Paris aus ihrem Elternhaus in Sparta entführt worden sei. Danach fällt die Straße ab und windet sich durch Pinienwälder über tiefen Buchten, wo sich Streifen blauen Meeres mit dem vorherrschenden Grün abwechseln. Halten Sie Ausschau nach dem aus dem 8. Jahrhundert stammenden Kloster Agnoundos, dem ältesten der Argolis, mit seiner aus dem 11. Jahrhundert stammenden Kuppel. Auch wenn Sie dort keinen Halt einlegen, wirkt es auch heute noch wie eine Offenbarung in der Mitte des Nirgendwo.
Als Nächstes kommen die beiden Küstendörfer Nea Epidavros und Palia Epidavros (Neu- und Alt-Epidauros). Keines der beiden Dörfer kommt altersmäßig an das Theater und das Heiligtum heran, aber Sie können dort eine Pause zum Essen oder Schwimmen einlegen. Nea Epidavros war der Schauplatz der ersten Nationalversammlung im Dezember 1821, als die griechischen Revolutionäre sich trafen, um eine nationale Verfassung auszuarbeiten (etwas voreilig, denn Griechenland sollte seine Unabhängigkeit erst zehn Jahre später gewinnen). Palia Epidavros war schon zu Urzeiten ein wichtiger Hafen und besitzt sogar ein eigenes Theater (aus dem 3. Jahrhundert v. Chr.). Es ist wesentlich kleiner als das große Theater, das jeder besichtigen kommt, und wird im Sommer für Kammerkonzerte und dergleichen benutzt. Mein Vorschlag wäre, diese Schauplätze nach dem Besuch des Haupttheaters in Epidauros zu besichtigen, da sie nur etwa 10 Kilometer voneinander entfernt sind.