Delphi zählt nicht zu den sieben Weltwundern der Antike. In Sachen Status und Bedeutung waren aber weinige Orte so mächtig wie Delphi, das zweieinhalb Fahrstunden von Athen entfernt liegt. Tausend Jahre lang kamen Arm und Reich, Könige und Bauern übers Mittelmeer und aus Kleinasien, um das Heiligtum des Apollon zu besuchen und dem Gott zu huldigen. Sein Orakel war das geistige Zentrum ihrer Welt.
Delphi war der Ort, wo man sich die Zukunft voraussagen ließ: von Fragen zu Eheschließungen und zur Aussaat bis hin zu gewichtigen staatlichen Angelegenheiten wie Kriegszügen. Die Wahrsagerin – eine tief religiöse Dorfbewohnerin mittleren Alters – soll sich durch das Kauen von Lorbeerblättern und vielleicht etwas leicht Toxischem in Trance versetzt haben. Ihre Prophezeiungen waren bekannt dafür, dass sie dunkel und zweideutig waren. Zu den berühmtesten gehört der Ratschlag, der Themistokles zur Verteidigung Athens gegen die Perser erteilt wurde: „Vertraue in hölzerne Mauern“. Themistokles legte ein Programm zur Stärkung der athenischen Flotte auf, die die Perser in der Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. vernichtend schlug. Das kryptische Orakel blühte viele Jahrhunderte lang, und diejenigen, die dort nach Antworten suchten, gaben Sach- und Geldspenden, die Delphi zu einem der reichsten Heiligtümer der hellenischen Welt machten.
Von Mythen und Bergen
Delphi hätte es mit Sicherheit auch auf einen Spitzenplatz unter den Ehrfurcht gebietenden Landschaften der Antike geschafft. Auch heute lohnt sich die Pilgerfahrt allein schon wegen des Ortes. Die Ruinen erstrecken sich horizontal und vertikal am Südhang des Parnass, eines der höchsten Berge Griechenlands, und blicken über einen seiner größten Ölhaine auf den Golf von Korinth im Hintergrund. Die Pilger reinigten sich an der berühmten Kastalischen Quelle am Fuß der schwindelerregenden, rotgoldnen Klippen der Phädriaden.
Von Heiligkeit durchdrungene Gründungsmythen von Delphi gibt es im Überfluss: von überweltlichen Dämpfen, die aus einer Erdspalte aufstiegen und die Äußerung von Prophezeiungen veranlassten, bis hin zu Zeus, der an beiden Weltenden zwei Adler aufsteigen ließ und den Ort, wo sie sich trafen, zum Omphalos, zum Nabel der Welt erklärte (den schlichten Steinblock, der sozusagen der Bauchnabel war, sieht man im Museum gleich neben dem Zugang zur Ausgrabung).
Machen Sie sich ortskundig
Das Orakel war ursprünglich der Mutter Erde geweiht. Aber schon in den Tagen Homers (8. Jahrhundert v. Chr.) war dies das Reich des Gottes der Wahrsagung und den Lichts, Apollon. Wenn Sie die Heilige Straße hinaufgehen, die sich im Zickzack zu seinem Tempel windet, sehen Sie die Fundamente der verschiedenen, von den griechischen Stadtstaaten und Kolonien gestifteten Schatzhäuser (Modelle sieht man ebenfalls im Museum). Der Tempel selbst ist stark zerstört, aber es wurde genügend wieder aufgerichtet, um seine frühere Größe erahnen zu lassen. Bei der Annäherung werden die Anbeter zwei berühmte Gebote an beiden Enden des massiven Unterbaus gelesen haben: „Erkenne dich selbst“ und „Nichts im Übermaß“. Worte, die man sich auch heute zu Herzen nehmen sollte.
Oberhalb des Tempels liegt ein vollkommenes kleines Theater und darüber das Stadion, in dem alle vier Jahre die Pythischen Spiele stattfanden (die nur geringfügig weniger bedeutend als die Olympischen Spiele waren). Ob Sie es glauben oder nicht, so viel von Delphi wurde geplündert, durch Erdbeben verschüttet oder überbaut, dass dieses Stadion einst das einzige war, was man noch sehen konnte. Aber Ende des 19. Jahrhunderts machten sich französische Archäologen ans Werk. Nachdem sie die Dorfbewohner überredet hatten sich in dem neuen, eigens für sie gebauten Ort in der Nähe niederzulassen, schälten die Archäologen Schicht für Schicht diese erstaunlichen Ruinen frei, holten Statuen, Inschriften und Weihegaben für Apollon und seine Priesterin Pythia ans Licht. Der Ort, an dem Pythia ihre Ratschläger erteilte, wurde nicht gefunden, obwohl man annahm, dass er unter dem Tempel lag.
Ehe Sie diese fesselnde Stätte durchwandern, sollten Sie zuerst das Museum besuchen, wo Ihnen Modelle zeigen werden, wie er in seiner Blütezeit aussah, und Karten und Informationstafeln bei der Orientierung helfen. Die Hauptattraktion in einem eigenen Saal ist der Wagenlenker, ein Meiserwerk in Bronze, dessen Glasaugen und fein modellierte Zehen Sie hypnotisieren werden. Und vergessen Sie nicht, das Gelände unterhalb der Straße zu erkunden. Dort finden Sie einen Tempel der Athene und die reizende Tholos, einen Rundbau aus weißem und rosa Marmor.
Gut zu wissen
Delphi ist ein fantastischer Ort für einen Besuch außerhalb der Saison. Die meisten Menschen sagen, sie spürten ein gewisses „Etwas“ in der Luft, und dieses greifbare Gefühl ist stärker, wenn weniger Besucher dort sind. Eine Erkundung von Delphi bei milderem Wetter – oder frühmorgens, wenn Sie im Sommer dort sind – macht das Erlebnis ebenfalls angenehmer. Eine Karte und ein Führer sind mehr als angebracht, wenn Sie sich auf eigene Faust in Delphi umschauen wollen. Wenn Sie indessen die Sorte Mensch sind, die die Planung lieber anderen überlässt, können Sie eine der zahllosen Delphi-Touren von Athen aus buchen. Alternative Athens und Athens Insiders sind zwei Veranstalter, die gute Pakete anbieten.
Was es in und um Delphi noch zu sehen gibt
Das beeindruckendste in der modernen Kleinstadt Delphi sind die dramatischen Ausblicke auf die Berge und das Meer von den Veranden der vielen Hotels und Restaurants aus. Vielleicht sehen Sie ja auch die Adler des Zeus am Himmel kreisen. Für ein Mittagessen am Meer können Sie in einer halben Stunde durch herrliche Ölhaine zum Küstenort Itea direkt unterhalb fahren. Oder Sie fahren von dort 7 Kilometer weiter nach Westen ins fotogene Galaxidi, ein stilles Hafenstädtchen, das im Seglerzeitalter erstaunlich lebhaft war.
Alternativ halten Sie sich ans Gebirge und fahren für ein traditionelles Tavernenessen in den Ort Arachova im Osten. Dieses rustikale Bergdorf, bekannt für seine teuren Boutiquen und seine Käsegeschäfte, ist ein beliebter Wintersportort betuchter Athener mit Skiliften und Berghütten in der Nähe. Wanderer, die die Pfade auf diesem majestätischen Berg erkunden wollen, wählen ebenfalls Arachova als Basislager.
Falls Sie mit dem eigenen Wagen anfahren, legen Sie am Kloster Osios Loukas einen Zwischenstopp ein, ehe Sie nach Arachova kommen. In der Abtei, die im frühen 10. Jahrhundert von einem Einsiedler mit prophetischen Gaben gegründet wurde, sehen Sie bemerkenswerte Fresken und Mosaiken – die zu den besten in Griechenland zählen. In einem Hain mit Mandelbäumen gelegen ist diese UNESCO-Welterbestätte im Spätwinter und Frühjahr besonders bezaubernd.
Osios Loukas liegt etwas hinter Distomo, dem Schauplatz eines der brutalsten Massaker in Griechenland im Zweiten Weltkrieg. 1944 ermordeten die Nazis hier 214 Männer, Frauen, Kinder und Babys als Vergeltung für die Tötung von drei Wehrmachtssoldaten durch Partisanen. Sie können das Mahnmal mit den Namen aller Opfer und ein kleines Museum dort besuchen.
Hätten die Nazis doch nur den Orakelspruch von Delphi beherzigt, als die Spartaner nach ihrem endgültigen Sieg über die Athener im Jahrzehnte dauernden Peloponnesischen Krieg fragten, ob sie die Stadt dem Erdboden gleichmachen sollten. Die Antwort war eindeutig: „Es ist nicht eure Aufgabe, den Herd – und die unsterbliche Flamme – von Hellas zu zerstören.“